Achtsamkeit oder Die Idee vom geteilten Raum

Achtsamkeit oder Die Idee vom geteilten Raum

Ich bin ein Agnostiker. Meine Frau ist seit einiger Zeit ein Fan des Buddhismus. Anfangs habe ich mir Sorgen gemacht. Ich stellte mir die Frage: „Was soll das? Reiche ihr nicht?“ J Nein, im Ernst, ich finde alles, was sie mir berichtet hat, sehr spannend und lehrreich. Nun, um ehrlich zu sein, hat sie mich regelrecht gezwungen, mir einiges anzuhören. Zum Glück! Besonders faszinierend fand ich das Thema Achtsamkeit.

Im Buddhismus spielt Achtsamkeit eine zentrale Rolle. Sie bezieht sich auf einfach alles. Sei achtsam der Umwelt gegenüber, den Tieren, den anderen Menschen, ihren Gefühlen, ihren Befindlichkeiten, aber auch dir selbst gegenüber. Es geht darum, zu versuchen, alles anzunehmen, das Gute wie das Schlechte, und es liebevoll und wohlwollend zu betrachten in vollem Bewusstsein dessen, dass es vergänglich ist. Natürlich neigen wir dazu, das Gute festhalten zu wollen, die Freude, die Lust, die wir empfinden, aber das funktioniert nicht. Alles kommt und geht, alles ist im Fluss und wenn wir uns daran klammern und es am Ende doch nicht festhalten können, dann sind wir frustriert. Wenn wir aber akzeptieren, dass es kommt und geht, dann können wir auch allem Negativen in unserem Leben mit mehr Gelassenheit begegnen. Denn auch das kommt und geht, der Schmerz, die Wut, die Angst. Wir neigen dazu, vor diesen Gefühlen wegzulaufen, zu fliehen – aber je weiter man flieht, desto schneller wird man davon eingeholt. Also auch hier gilt – das Gefühl zulassen, es annehmen, es beachten und erforschen und es dann vorbeiziehen lassen.

Das hört sich natürlich alles ganz wunderbar an, aber wir alle wissen auch, wie schwierig es ist, derlei gute Vorsätze, die bestimmt viele von uns haben, auch im Alltag umzusetzen. Nun erzählte mir meine Frau, dass es unter den Stadtplanern (speziell in der Niederlande und der Schweiz) seit einiger Zeit das Konzept des so genannten Shared Space gibt. Dieses steht ganz besonders der deutschen Regelwut entgegen, für alles und jedes ein Schild aufzustellen. Das Konzept zielt darauf ab, wieder mehr Offenheit und Freiheit in den urbanen Raum zu bringen, will heißen, es gibt absolut keine Schilder und, außer des Rechts-vor-Links-Gebots, auch keine Verkehrsregeln mehr. Der Verkehrsteilnehmer wird also nicht mehr normiert, sondern in die Freiheit entlassen und das Durcheinander wird nicht als etwas angsteinflößendes, sondern als große Chance begriffen.

Die Kommunen und Städte, die das Prinzip des Shared Space bereits eingeführt haben, stehen mit Erstaunen vor den Folgen dieser neuen Unvorhersehbarkeit, bei der nichts vorab geregelt ist. Diese neue Unsicherheit erfordert Anteilnahme und Aufmerksamkeit, sie erfordert, dass ein jeder auf den anderen achtet. Man muss also von sich selbst absehen und sich bewusst werden, dass man nicht alleine ist; ja, dass man etwas teilt (auch wenn es nur der Raum ist), mit Menschen, die so völlig verschieden von einem selbst sind, dass man jederzeit auf alles gefasst sein muss. Achtsamkeit ist also unabdingbar.

Wo es vorher nur darum ging, wer welche Regeln befolgt, oder eben nicht, so geht es nun darum, nicht länger nur ein Ich zu sein, sondern ein Wir. Ohne einvernehmliche Gesten, ohne das Vertrauen in den anderen, ist kein Vorankommen. Man hat festgestellt, dass nicht nur der Verkehr in den Shared Space-Bereichen sicherer wird und man sogar schneller vorankommt (zwar fließt der Verkehr langsamer, aber er stockt nicht, er bleibt im Fluss), es ist auch so, dass die Menschen, die in diesen Kommunen leben, deutlich engere Sozialkontakte zu ihren Nachbarn pflegen.

Was lernen wir nun daraus? Dass ein Raum, der nicht determiniert ist, der das Individuum fördert und widerspiegelt, gleichzeitig den Gemeinsinn fördert. Und wir lernen, dass Achtsamkeit das Fließen begünstigt. Und das gilt nicht nur für den Verkehr.

Genau so ist es in der Kunst.

Verharre ich in alten Denkstrukturen und Handlungsmustern oder bringe ich die Bereitschaft mit, diese aufzubrechen, mein Ego zu erkennen, es durchaus liebevoll anzunehmen, aber es dann ziehen zu lassen, um neue Wege zu erforschen und Blickwinkel auszuprobieren? Bringe ich meine Kreativität selbst ins Stocken durch allzu viele Verkehrsschilder und -regeln (selbst auferlegt oder von der Gesellschaft oktroyiert, das spielt keine Rolle)? Wieso verbanne ich sie dann nicht mal und versuche sie durch Achtsamkeit zu ersetzen?

Denn das ist auch im Alltag möglich. Und vielleicht fließt der Fluss dann geschmeidiger und kreative Ideen finden leichter ihren Weg zu mir, bzw. ich be-achte sie plötzlich, wo sie vorher an mir vorbei gerauscht wären, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, vor dem Stopp-Schild zu verharren.

Seid also achtsam und seht, was passieren wird.

Bis bald – Ivan


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