Ich möchte mit einem Zitat vom Harald Martenstein beginnen, der sich in seiner neuesten Kolumne dazu äußert, dass auch Journalisten sich ab und an zu unlauteren Handlungsweisen hinreißen lassen – nicht nur Politiker. Er schreibt: Wissen Sie, was ich an der Tugend nicht mag? Wer sich ehrlos verhält und nicht erwischt wird, der hat davon einen Vorteil. Wer sich aber tugendsam verhält, der hat in den meisten Fällen gar nichts davon. Das ist der eigentliche Skandal!
Dies ist eine Erkenntnis, der ich mich sehr wohl anschließen kann. Und sie hat mich zum Nachdenken gebracht. Der Hype um Wulff und Guttenberg hat mal wieder gezeigt, dass eigentlich alles oft nur Fassade ist. Auch die sogenannte Ehrbarkeit. Aber da hört es ja nicht auf und es geht mir hier auch nicht um zweifelhafte politische Charaktere. Es geht darum, dass wir immer wieder versuchen, die Welt in Wahrheiten zu ordnen. Wir gewinnen im Laufe unseres Lebens immer mal wieder eine Erkenntnis, haken sie dann als „wahr“ und feststehend ab und erklären uns so das Leben. Das ist wiewohl notwendig, um nicht verrückt zu werden. Aber im Grunde ebenso unsinnig, denn die Wahrheit gibt es nicht. Und immer wieder mal müssen wir das (nicht selten schmerzhaft) erkennen.
Die Konstruktivisten sind da schonungslos. Es gibt keine Wahrheit, keine Wirklichkeit, kein Du, kein Ich, keine Welt usw. Alles ist von uns selbst konstruiert und von jedem anders. Nun, das mag ja sein, aber wer kann schon so leben? Und wie können wir miteinander leben, wenn wir das alle glauben würden? Was hätte dann noch einen Sinn? Also suchen wir weiter nach den Erkenntnissen und Wahrheiten, die uns eine Erklärung liefern sollen. Einen Grund, einen Zusammenhang, irgendwas.
Der russische Regisseur Alexander Sokurow hat seinen Film „The Russian Ark“ an einem Nachmittag in einer einzigen 96-minütigen Einstellung in den Räumen der St. Petersburger Eremitage gedreht. Ein einziger Kameramann hat sich den Weg durch Hunderte Schauspieler bahnen müssen, die 300 Jahre russische Geschichte darstellen mussten. Die Kamera fräste sich durch hundert Säle auf der Suche nach dem einen Ereignis, das alles erklärt und in einen übergeordneten Zusammenhang bringt. Ich weiß nicht, ob er gefunden hat, was er suchte, aber man kann nicht sagen, er hätte es nicht versucht.
Ein deutscher Wissenschaftler, der in England lebt und arbeitet und sich Prinz Charles zum Erzfeind gemacht hat, hat mit wissenschaftlichen Standards alternative Therapieformen in randomisierten Studien erforscht. Unter anderem die Wirksamkeit der homöopathischen Globuli. Er hat herausgefunden, dass sie keinen größeren Effekt haben als die Placebos, die in der Studie verabreicht wurden. Sie sind also, so gesehen, unwirksam. Und doch wieder nicht. Denn auch Placebos haben ja einen Effekt, auch wenn er im Grunde von unserer eigenen Psyche kommt und nicht vom Mittel als solches. Wenn wir glauben, dass etwas wahr ist, dann ist es das (für uns) auch.
Der Teilchenbeschleuniger in Cern hat letztlich ein paar Neutrinos zutage gefördert, die sich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegten. Die Bestätigung steht noch aus, aber die physikalische Welt ist in Aufruhr, weil das alles auf den Kopf stellen würde, was man bis dato als „wahr“ angenommen hatte. Vermeintlich sichere Gesetzmäßigkeiten existieren nicht länger und die Welt gerät aus den Fugen. Und doch – ich muss weiter meine Miete zahlen und die Leute reden nach wie vor über das miese Wetter. Tja…
Es ist also, ich denke, so kann man sagen, alles immer im Fluss. Erkenntnisse verwandeln sich Schein, Wahrheiten in Lügen, Sicherheiten in Abgründe. Man könnte es also auch lassen und sich bequemeren Dingen zuwenden. Aber nein, das gelingt uns nicht. Wir streben nach der Erkenntnis, obwohl wir so oft eines besseren belehrt wurden. Wir machen weiter und weiter, auch wenn es weh tut. Wie ungemein aufregend!
Und manchmal halten wir einfach an dem fest, was uns gefällt. An unserer Wahrheit eben. Wie schön!
Leute, wenn ihr es nicht schon längst tut, fangt an zu suchen. Nach Erkenntnissen, Wahrheiten, Lügen, Essenzen! Und haltet das fest, was euch auf dem Weg begegnet. Habt bloß keine Angst, falsch zu liegen, denn das ist gar nicht möglich. Und habt auch keine Angst, eure Erkenntnisse von letzter Woche über den Haufen zu werfen und sie durch neue, völlig entgegengesetzte, zu ersetzen. Die Hauptsache ist: Bleibt im Fluss! Denn ansonsten sterbt ihr innerlich ab!
In diesem Sinne – bis bald — Ivan.
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